Tausend Rubel

Sie war eine Babuschka wie aus dem Bilderbuch. Rund wie eine Kugel, die grauen Haare zu einem Knoten zusammengebunden, darüber ein blaues Kopftuch. In ihrem geblümten Kleid stand sie vor dem Schaufenster eines Kaufhauses, wahrscheinlich schon seit morgens früh. Sie hielt einen vertrockneten Margeritenstrauß im Arm.

Ilka stellte sich vor, wie die alte Frau im Morgengrauen behäbig zu einer nahegelegenen Wiese gehumpelt war, auf ihren ausgetretenen, vergilbten Schlappen, um die Margeriten zu pflücken. Bestimmt wohnte sie in einem heruntergekommenen Plattenbau am Rande der Stadt, irgendwo im zehnten Stock. Nach dem Blumenpflücken hatte sie vorsichtig die Eier eingesammelt, die Galina, ihre Henne, auf dem Balkon gelegt hatte. Dann hatte sie ihre Sträuße unter den Arm genommen und war mit dem Trolleybus in die Stadt gekommen. Nun stand sie hier, am Newskij Prospekt, auf ihren offenen Beinen, in der sengenden Sommerhitze, den ganzen Tag schon. Babuschka Margarita, so taufte Ilka sie insgeheim.

Solange Galina weiter fleißig Eier legte und sich der eine oder andere Petersburger Passant auf dem Weg vom Shopping-Center in ein elegantes Restaurant spendabel zeigte, solange kam sie durch. Einigermaßen.

Ilka blieb stehen und betrachtete den einsamen Strauß in Babuschka Margaritas Arm. Die Blumen ließen traurig ihre Köpfe hängen. Ihre Blätter waren gelb und vertrocknet. Die Blüten sahen so abgerupft aus, als hätte Babuschka Margarita am Straßenrand heimlich „er liebt mich, er liebt mich nicht“ gespielt.

Ilka tat das alles furchtbar leid. Die Armut, das beschwerliche Leben in der kargen Plattenbauwohnung mit Galina als einziger Freundin. Sie holte umständlich ihr Portemonnaie aus der Tasche. Sie wollte ihr ein bisschen über die Runden helfen der alten Frau, ihr eine kleine Freude bereiten.

Während Ilka sich an ihrer Tasche zu schaffen machte, beobachtete Babuschka Margarita ungerührt den Straßenverkehr. Weder ihr breites Gesicht mit der gräulichen Haut, so trocken wie die Margeriten in ihrem Arm, noch die schmalen, schrägen Augen, die unter ihren wulstigen Wangen beinahe verschwanden, verrieten irgendetwas über Babuschka Margaritas Charakter oder über ihren Gemütszustand. Ihre Falten, so zahlreich sie auch waren, liefen in der Tendenz weder nach oben, noch nach unten, sie zeigten überall und nirgendwo hin. Nichts ließ sich ablesen daraus, weder Fröhlichkeit noch Anstrengung, weder Güte noch Boshaftigkeit.

Ilka versuchte, sich Babuschka Margaritas Leben vorzustellen. Sie nahm, was Gott ihr schickte. Ungerührt, schicksalsergeben. Ob im Kreml ein Mann mit Glatze regierte oder einer mit Haaren, Lenin oder Stalin, Chruschtschow oder Breschnew, Gorbatschow oder Putin, für Babuschka Margarita war das alles eins. Repression oder Öffnung, sowjetische Mangelwirtschaft oder Wildwest-Kapitalismus mit Oligarchen und Mafia, Währungskrise oder Ölboom, Babuschka Margarita musste sich durchschlagen, mehr schlecht als recht, mit einem Huhn auf dem Balkon und mit Pilze- und Beerensammeln im Wald. Gelegentlich verkaufte sie in der Stadt selbst gepflückte Wiesenblumen.

„Wieviel kostet das?“, fragte Ilka in ihrem gebrochenen Russisch. Sie deutete ungeschickt mit ihrer Tasche auf den Strauß.

Babuschka Margarita musterte Ilka misstrauisch. „Tausend Rubel“, stieß sie schließlich hervor. Es klang gehetzt. Ein bisschen böse auch.

Tausend Rubel. Die sollte sie haben, in Gottes Namen. Wenn man bedachte wie alt sie war, wie schwer sie es hatte. Ilka reichte ihr ohne zu zögern einen Tausend-Rubel-Schein. Babuschka Margarita starrte wie gebannt auf Ilkas Hand. Regungslos. Eine Ewigkeit. Dann, wie ein Krokodil, das aus der Lauerstellung hochschießt, um seine Beute in den Fluss zu reißen, schnellte plötzlich Arm ihr hervor. Sie schnappte sich den Schein. Als sie ihn in Hand hielt, fest umschlossen, erstarrte ihre Haltung wieder, als hätte es ihren Blitzangriff nie gegeben. Langsam, langsam, öffnete sie die Hand und betrachtete nachdenklich ihre Beute. Wortlos reichte sie Ilka den Strauß.

„Auf Wiedersehen“, rief Ilka, als sie weiterging. Sie versuchte ein gewinnendes Lächeln. Babuschka Margarita blickte ihr stumm hinterher.

 

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