Sie spürte jeden Knochen in ihrem Körper. Um halb sechs hatte der Wecker geklingelt. Sie hatte das Hausmädchen geweckt, war in den Keller gegangen, Ofen heizen, Frühstück machen, Pausenbrote für die fünf Kinder. Duschen, alle wecken, zur Eile antreiben, den mittleren Jungen zurückrufen, weil er ohne Jacke losgegangen war, der Jüngsten, die sich taub stellte, mit dem Pausenbrot hinterher laufen. Abräumen, spülen, einräumen, den Esszimmertisch abwischen, fegen, Arbeitsplatte und Küchengeräte reinigen. Schlafzimmer lüften, Betten machen.
Er war mit einem einsilbigen Gruß in die Firma gefahren. In der Nacht war es wieder geschehen. Sie hasste es. Sie hasste es. Sie hasste es, wenn er sich mit seinem von Jahr zu Jahr schwereren Körper auf sie wälzte, keuchend zu stoßen begann. Es kam immer seltener vor, zum Glück. Es tat noch genauso so weh wie damals in der ersten Nacht.
Natürlich konnte man mit niemandem darüber sprechen, und doch wusste sie genau, dass es so nicht sein musste. Judith war in der Jugend mit Männern in der Feldmark verschwunden. Stadtbekannt war das gewesen. Das ist die Leidenschaft, hatte Judith ihr erklärt, dagegen komme ich nicht an. Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist, das war ihre Antwort gewesen. Die Freundschaft hatte das nicht überlebt. Aber wer auch immer in der Sache recht gehabt hatte, heute war sie sich da nicht mehr so sicher, eins war klar, weh getan hatten Judiths Abenteuer in der Feldmark nicht. Sonst hätte sie wohl nicht ihren Ruf riskiert dafür.
Später hatten die Nazis Judith geholt. Und was war ihr Lohn für all die Tugendhaftigkeit gewesen? Qualen im Ehebett und endlose Tage voller Plackerei.
Sie legte ihren Kopf in den Nacken, lehnte sich in den schmerzenden Rücken. Den ganzen Vormittag hatten sie Kochwäsche in riesigen Töpfen umgerührt, auf dem Waschbrett geschruppt, ausgewrungen, dann aufgehängt. Jeder Knochen tat ihr weh. Jeder. Was für Berge von Wäsche anfielen, mit so einer Familie. Immerhin musste sie inzwischen nicht mehr die ekelhaft stinkenden Windeln waschen. Sie verzog angewidert das Gesicht.
Das Hausmädchen schickte sie Böden fegen und wischen, sie selbst schleppte einen schweren Teppich nach dem anderen an die Terrassentür.
Ein einziges Mal nur war sie über sich selbst hinausgewachsen, in dem Versuch, ihre Nächte zu retten. Bei einem ihrer seltenen Ausflüge in die Großstadt waren sie an einem Bücherstand vorbei gekommen, damals hatten sie sich beim Spazieren noch untergehakt. Aus dem Augenwinkel hatte sie eine Art Lehrbuch darüber gesehen. Danach konnte sie an nichts anderes mehr denken, wochenlang.
Beim nächsten Besuch in der Stadt hatte sie sich unter einem Vorwand Geld vom ihm geben lassen, sie müsste noch etwas besorgen. Sicher, gewundert hatte er sich, sie ging nie alleine los, schon gar nicht in der Großstadt. Zu viel Angst. Doch das Geld hatte er ihr fraglos gegeben. Er fragte nie. Für Fragen fehlte ihm das Interesse.
Der Stand war noch dagewesen, das Buch auch. Eine Ewigkeit hatte sie zitternd an einer nahegelegenen Straßenecke gestanden, um Mut zu fassen. Beinahe wäre sie unverrichteter Dinge wieder zurück zu ihm gegangen, doch am Ende hatten ihr die nächtlichen Qualen, hatte ihr die Vorstellung von Judiths Leidenschaft den nötigen Mut gegeben. Löwenmut. Mantelkragen hochgezogen, so hoch wie es ging, den Hut tief im Gesicht, so hatte sie sich das Buch erstottert, es war gar nicht teuer gewesen. Sie hatte es sofort tief in der Tasche vergraben, später, zu Hause, ganz hinten unter der Wäsche.
Mit einem elegant geschwungenen Klopfer schlug sie auf die Teppiche ein. Einen nach dem anderen befreite sie mit ihren kräftigen, entschlossenen Schlägen von Staub und Fusseln. Wenigstens sauber sollte es sein bei ihr, das ließ sie sich nicht nehmen. So sauber, dass man vom Boden essen konnte.