Sie kommt jeden Tag.
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.
Eine der größten Umsteigestation der Stadt hat sie sich ausgesucht, mit Zeitungsläden und Bäckereien, mit Obstverkäufern ohne Verkaufslizenz und mit wendigen Asiaten, die Regenschirme verkaufen im Regen, Mützen und Handschuhe in der Kälte, Spielzeug sonst. Dass ich so traurig bin. Weil der Nutzen von Regenschirmen im Regen und von Mützen und Handschuhen in der Kälte offensichtlich ist, der von Spielzeug aber nicht, veranstalten die Asiaten Variété damit, um die hastig vorbei eilenden Passanten zum Kauf zu bewegen. Ein Märchen aus uralten Zeiten. Glitzernde Flummis hüpfen in den Tunnelhimmel, signalfarbene Glibbermasse verwandelt sich beim Aufprall auf Asphalt in Monster, Aufziehplüschhunde wippen mit Schwänzen und Köpfen. Wer sich die Mühe macht, im Vorbeilaufen einen Blick auf sie zu werfen, dem klimpern sie mit treuen Knopfaugen zu
Die wendigen Variétédirektoren sind immer auf dem Sprung, auch auf dem Höhepunkt der Vorstellung jederzeit bereit, ihr künstlich animiertes Ensemble in ein Tuch zu raffen, die Flucht zu ergreifen. Das geht mir nicht aus dem Sinn. Denn auch das Variété hat hier keine Lizenz, zum Verkaufen nicht und zum Unterhalten auch nicht.
Die Luft ist kühl und es dunkelt. Mitten in dem Spektakel sitzt sie. Auf ihrem winzigen Schemel, klein und zerbrechlich, in einfachen, doch immer tadellos ordentlichen Kleidern. Die Spitze des Berges funkelt.
Sie spielt Flöte. Oder sagen wir, sie bläst hinein in ihre Flöte, erzeugt eine Hand voll schiefer Töne. Und auf dem Felsen sitzet. Doch wenn sie da so sitzt mit ihrer rotkäppchenroten Baskenmütze auf lichten Haar, dem sie mit wer weiß was für einer Farbe einen Stich ins Orange gegeben hat, so keck zurechtgemacht, dort unten, ihr goldnes Geschmeide blitzet, tief unten im Dunkeln, unter der Erde, kämmt ihr güldenes Haar, zwischen all den hastigen Heimkehrern, die achtlos an ihr vorüber eilen, dann berührt sie mich. Sie berührt mich, als spielte sie eine wundersame, gewaltige Melodei. Und singt ein Lied dabei.
Und deswegen muss ich stehenbleiben, jedes Mal. Oder jedenfalls denke ich das. Jedes Mal. Dann werde ich doch von der eiligen Menge einfach weitergespült, durch die langen, dunklen Tunnelgänge, noch eh ich mich versehe, hinein in die nächste U-Bahn. Keine Gelegenheit, stehenzubleiben bei ihr, zu verweilen, ihr zuzuhören, ihre Ausdauer zu bewundern, mein Portemonnaie zu zücken.
Aber heute soll es anders sein, heute lasse ich mich nicht mit den Massen durch die U-Bahn-Schächte schwämmen wie Ratten in einer Kanalflutung. Heute nehme ich das Schicksal in die Hand, schwimme an gegen den Strom, erlaube dem Zauber, von mir Besitz zu ergreifen. Erfasst mich mit wildem Weh. Ich bin schon zwanzig Meter an ihr vorbei, da nehme ich alle meine Willenskraft zusammen, leiste Widerstand gegen den gewaltigen Strom der Heimkehrer, muss schnell zur Seite springen zwar, um nicht vom Menschenstrom hinter mir weitergerissen zu werden, doch am Ende gelingt es mir. Es gelingt mir das Unmögliche. Ich bleibe stehen, gehe zurück. Gehe zurück zu ihr.
Sie spielt weiter ihre langgezogenen, schiefen Töne. Ich höre andächtig zu. Und spielt ein Lied dabei, das hat ein wundersame...
Neben ihr steht eine kleine Messingschale. Ich gehe in die Knie, um meine Münze hineinzuwerfen. Da saust eine zweite Münze vorbei, an mir und an dem Schälchen auch, schwupp, in die Abflussrinne hinein. Eine elegante Frau beteuert, sie sei untröstlich, bedankt sich bei mir, als ich beginne, nach der Münze zu fingern. Dann eilt sie weiter. Mir ist als hallten ihre hohen Absätze am lautesten von allen wider, in der tosenden Absatzbrandung, gewaltige Melodei.
Derweil schwimmt ihre Münze, die jetzt die Münze der Flötenspielerin ist, in einer schwarzen, klebrigen Masse. Ich fische sie heraus aus der Abflussrinne, putze ein bisschen mit der Hand daran herum, lege sie ins Messingschälchen. Feierlich. Sie ist die größte unter den dort vorhandenen Münzen. Wenn man von der Münze absieht, die ich hineingelegt habe.
Unterdessen hat die Flötistin ihr Spiel unterbrochen, blickt aufmerksam von ihrem kleinen Schemel auf mich herab. Die schönste Jungfrau sitzet,
Sie haben mich sicher vermisst, sagt sie. Ich war lange nicht da, dort oben wunderbar.
Ich schlucke. Sollte sie mich wirklich wahrgenommen haben, jeden Abend, von ihrem Lied gefangen genommen, von ihrem Anblick, schaut nicht die Felsenriffe, und doch immer wieder an ihr vorbeigespült durch die langen, dunklen Tunnelgänge, hinein in die nächste U-Bahn, schaut nur hinauf in die Höh.
Ich war im Krankenhaus, sagt sie. Es geht mir noch immer nicht gut. Wie zum Beweis hustet sie. Es röchelt und scheppert tief in ihren Bronchen.
Aber ich kann noch nicht sterben. Jetzt flüstert sie. Es ist für die Arbeit. Für die Arbeit will ich noch weiterleben, wissen Sie?
Ich sehe sie verwirrt an. Was für einer Arbeit mag diese kleine, schwache Person nachgehen, in dem Alter? Dann geht mir ein Licht auf, die Spitze des Berges funkelt. Sie lässt sich nicht täuschen von dem Piepsen ihrer Flötentöne. Sie weiß um ihren Zauber. Im Abendsonnenschein.
Sie beugt sich vertraulich zu mir herunter. Kennen Sie meine Gedichte? fragt sie. Ohne meine Antwort abzuwarten, kündigt sie die bezaubernde Rose an. Oh, du bezaubernde Rose, höre ich, wie lieblich du ... Doch obwohl ich mein Ohr förmlich auf ihre kleinen, geschminkten Lippen lege, entkommen mir die nächsten Zeilen, versinken im Asphaltabsatzklappern, im Stimmengewirr. Die anmutige Neigung der Rosenknospe erhasche ich, das holde Frühlingsgrün. Alles andere verschluckt die tosende Brandung des Tunnelstroms. Eine wundersame,
Die Dichterin sieht mich erwartungsvoll an, gewaltige Melodei.
Bravo, sage ich.
Ich habe sie eingeschickt die Gedichte, zu Edition Braillard. Die wollten 3000 Euro dafür haben. Die Verbrecher, fügt sie hinzu. Sie sieht mich empört an, als sei ich es, die sich dem Zauber ihrer Lieder so schnöde mit Profitgedanken entzogen hat.
Schon richtet sie ihre Augen wieder in den grauen Tunnelhimmel, verzückt, kündigt das nächste Gedicht an. Nennt den Titel, fragt kurz, ob es mir bekannt sei, ohne sich um die Antwort zu kümmern, legt sie los. Eine schlanke Tanne, kann ich erhaschen, und singt ein Lied dabei, es ist ein Weihnachtsgedicht, ein glockenhelles Kinderlachen, sonst nur das Rauschen der Passantenwellen.
Langsam stehe ich auf, die Gelenke knacken, mein Fuß ist eingeschlafen. Ich winke, als ich schon davongerissen werde von der Heimkehrerflut, rufe laut, gelobe wiederzukommen.
Ich glaube die Wellen verschlingen am Ende Schiffer und Kahn
Doch sie hört mich schon längst nicht mehr, vertieft in ihr Flötenspiel.
Das hat mit ihrem Singen...