Ach wissen Sie, Frau Malencke, das ist doch alles so lange her, ich kann mich kaum noch erinnern. Nun gut, wenn Sie sagen, dass es Ihnen für Ihre Führungen hilft, dann will ich es mal versuchen.
Ja gerne, ein Tee ist immer gut. Danke schön. Nein, kein Zucker, ein bisschen Milch vielleicht.
Dass die Leute sich für diese alten Geschichten tatsächlich heute noch interessieren. Ja sicher, das sind historische Führungen, die sie da machen. Aber das ist doch in dem Sinne keine Geschichte, unsere Flucht damals.
Wirklich? Na wenn Sie meinen. So habe ich das noch nie gesehen, aber wenn Ihre Besucher das so fasziniert, dann ist vielleicht etwas dran. Ja, ein bisschen abenteuerlich war es, das kann ich nicht abstreiten.
Wie soll ich sagen. Wir konnten es einfach nicht mehr aushalten in der DDR.
Das Schlimmste war dieses Gefühl, eingeschlossen zu sein, dass sie uns einfach alle mit Stacheldraht eingezäunt hatten, mit Hunden und Türmen bewachten, um uns davon abzuhalten, dorthin zu gehen, wohin wir wollten.
Bernd und ich, wir hatten beide Familie im Westen, mein Bruder lebte in München, wir waren uns sehr nahe, schon immer, seit wir Kinder waren. Und so spürten wir jede Einschränkung der Reisemöglichkeiten sofort, am eigenen Leib, sozusagen. Es wurde einfach immer schwieriger, sich zu sehen. Anderen, Nachbarn und Freunden, ging das nicht so nahe, die nahmen das kaum wahr, es sei denn, sie hatten wie wir jemanden im Westen, der ihnen fehlte.
Wir waren in Leipzig damals, das war weit genug weg von der Grenze, dass man die Teilung leicht ausblenden konnte, wenn man wollte.
Richtig schlimm wurde es dann, als sie die Mauer bauten. Ich weiß auch nicht, es war einfach so, als wenn sie uns den letzten Hoffnungsschimmer genommen hätten. Vorher hatten wir uns noch manchmal mit unseren Geschwistern in West-Berlin getroffen. Und irgendwo hatte man das wohl doch im Hinterkopf, dass man ja zur Not raus könnte, über Berlin. Und dann auf einmal, war auch dieser Weg verschlossen. Man saß fest, für immer.
Die Vorwürfe, die man sich machte, dass man nicht eher weg ist, ich kann Ihnen das gar nicht beschreiben.
Materiell gesehen ging es uns gut, da konnten wir nicht klagen. Ich hatte gute Arbeit, mein Mann auch. Das einzige, was man hätte bemängeln können, war unsere Wohnung. Wir hatten eine schlechte Wohnung, viel zu klein für eine Familie mit Kind, dunkel, Außentoilette. Aber allein deswegen wären wir nicht in den Westen geflohen, wir konnten doch überhaupt nicht sicher sein, dass wir da etwas Besseres finden würden.
Nein, es war dieses Gefühl des Eingeschlossenseins, die politische Situation auch. Mein Mann und ich, wir hatten beide als überzeugte Kommunisten angefangen, waren in der SED, und zwar wirklich engagiert, jedenfalls als wir jünger waren.
Aber mit der Zeit waren wir immer mehr enttäuscht von der politischen Entwicklung, diese Farce von Wahlen, immer weniger konnte man sagen, was man dachte, und dann dieses Misstrauen. Man wusste einfach nicht mehr, mit wem man offen sprechen konnte.
Wir hatten gute Freunde und nette Bekannte damals in Leipzig, wir mussten wirklich einiges hinter uns lassen, als wir flohen. So schnell baut man das auch nicht wieder auf, wenn man neu irgendwo anfängt, aber die Krux war: So genau wusste man das nie, mit den Freunden und Bekannten in der DDR. So sehr man sich auch vertrauen wollte, der Zweifel nagte immer: Ist der nicht doch bei der Stasi? Und wenn er es nicht ist, schnappen sie sich den nicht noch, irgendwann?
Diese ständige Unsicherheit, dieses Misstrauen, das hat mich verrückt gemacht. Ich war unfähig mich fallen zu lassen, mich hinzugeben, wenn sie so wollen, das galt auch für die engsten Freunde. Wissen Sie, das hätte sich auch in meine Familie einschleichen können am Ende. Die gab es ja, die Fälle, dass Ehepartner, Eltern und Kinder sich gegenseitig verrieten.