Wilhelm/ Ecke Leipziger

Die Angst und das Misstrauen, das spielte für uns eine zunehmend große Rolle, weil wir eben immer weniger einverstanden waren mit dem, was in der DDR passierte.

Ich glaube Ihnen das, dass Sie das ganz anders empfunden haben und Ihre Familie auch. Wie gesagt, das war bei vielen unserer Freunde und Bekannten in Leipzig genauso. Die nahmen den Überwachungsstaat so gar nicht wahr, lebten einfach ihr Leben, konzentrierten sich auf den Alltag und kümmerten sich um die Politik nicht weiter. Die Unannehmlichkeiten blendet man aus, selbstverständlich geht das.

Ja sicher, ein bisschen macht man das immer, um zu überleben. Kein System ist perfekt. Aber uns gelang das in der DDR damals einfach nicht mehr. Ich hatte immer das Gefühl, ich werde krank, wenn das so weiter geht, ich verfaule einfach innerlich vor lauter Abscheu und Misstrauen. Manchmal sind die Gräben einfach zu tief zwischen den Menschen und dem Land, in dem sie leben sollen.

Irgendwann, es muss so zwei Jahre nach dem Mauerbau gewesen sein, da brach es so richtig aus meinem Mann heraus. Der ganze Ärger über unsere Gefangenschaft, die politische Unterdrückung, die Lügen, die vergiftete Atmosphäre.

Mensch Ines, sagte er zu mir, ich würde am liebsten hier weg.

Ich zögerte nicht eine Sekunde mit meiner Antwort: ich auch.

Von da an war alles klar. Mein Mann konzentrierte seine ganze Kraft darauf, unsere Flucht zu planen. Der Einfallsreichtum und die List, die er dabei entwickelte, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Zuerst kam er mit der Idee mit dem selbst gebauten Heißluftballon, man griff einfach zum Äußersten, in der Verzweiflung. Einer oder zwei sind wirklich so geflüchtet, aber wir konnten das Material nicht auftreiben. Mein Mann stellte buchstäblich die gesamte Republik auf den Kopf, doch da war einfach nichts zu machen.

Und dann, irgendwann auf seinen Dienstreisen ins Haus der Ministerien, wurde ihm klar, wie nahe dieses Gebäude an der Mauer stand. Und dann war er einfach nicht mehr davon abzubringen. Er muss das ganze Haus ausgekundschaftet haben, jedes Mal kam er mit neuen Ideen zurück.

Mensch Ines, ich habe da ein Fenster gefunden, ganz oben im sechsten Stock, das führt direkt aufs Dach. Das ist es, das ist die Lösung.

Eine Seilbahn, Ines, wir seilen uns da mit einer Seilbahn ab. Ich habe geguckt, da gibt es genug Masten und andere Gegenstände auf dem Dach, an denen wir ein Stahlseil befestigen können. Ich sage es dir, das klappt.

Die Seilbahn, die können wir selber bauen, Ines. Mit einer Seilwinde, an der man sich festhalten kann. Weißt du, wie auf dem Abenteuerspielplatz, den Klaus so liebt. Die Winde, die können wir uns fertigen lassen. Wir sagen einfach, wir wollen einen eigenen Spielplatz bauen, näher bei uns zu Hause, weil unser Junge so verrückt danach ist.

Nein, natürlich, du hast recht, Ines. Wir können uns nicht einfach nur festhalten an der Seilwinde und dann in 25 Meter Höhe durch die Lüfte sausen. Das geht natürlich nicht. Mit dem Jungen können wir das nicht machen, das ist viel zu gefährlich. Obwohl er sehr sportlich ist, hast du gesehen, wie er neulich auf dem Abenteuerspielplatz? Nein natürlich kommt das nicht in Frage, Ines, reg' dich bitte nicht auf. Ich habe auch schon längst eine Idee. Wir nähen Sitzgurte, die können wir sicher an der Seilwinde anbringen. Das heißt, du nähst Sitzgurte, nähen kannst du am besten. Ich weiß auch nicht, irgendeinen sehr elastischen Stoff müssen wir auftreiben, fest muss er auch sein, sogar mich muss der aushalten, ihr zwei seid ja Fliegengewichte. Ja natürlich, wir probieren das vorher aus, um zu sehen, ob das hält. Und ich muss Hammerweitwurf üben. Der muss unbedingt beim ersten Mal über die Mauer, mehr als einen Versuch haben wir nicht.

Mein Gott, Ines, was glaubst du, was mir heute aufgefallen ist, beim Besuch im Ministerium. Da kundschafte ich wochenlang unser Fenster aus und die Möglichkeiten, uns unbemerkt im Gebäude aufzuhalten, bis die Mitarbeiter nach Hause gehen, bis es dunkel genug ist für unsere Flucht – und jetzt? Mir fällt zum ersten Mal auf, dass da rechts und links vor dem Fenster Türen sind, und zwar ganz seltsame. Nicht aus Holz, sondern aus so einer Art Metall. Namensschilder fehlen auch. Mensch, kannst du dir vorstellen, was für ein Leichtsinn, das so lange zu übersehen, überhaupt nicht zu überprüfen! Beim nächsten Mal muss ich das herausfinden, wer den Raum nutzt, und wie lange. Unbedingt. Nachher ist da noch einer bis spät in der Nacht im Gebäude, beobachtet alles. Ich darf gar nicht daran denken, was ich sonst noch für Fehler gemacht habe. Da wird mir ganz anders.

Und nach dem nächsten Besuch im Ministerium: Ines, jetzt ist wirklich alles vorbei, es ist zum Verzweifeln. Wir fangen bei Null an. Ich hab vorsichtig diese ominöse Tür geöffnet heute, und was meinst du, was sich dahinter verbarg? Eine Stasiuniform. Also ein Mann in Uniform, kein Zweifel. Was meinst du, wie schnell ich die Tür wieder zugemacht habe. Und wie ich dann durch die Gänge gerast bin, mit Hechtsprung in den Paternoster, und dann nichts wie weg. Ich glaube, ich bin noch einmal davongekommen. Ist mir niemand gefolgt, jedenfalls nicht, dass ich es bemerkt hätte. Aber unser Plan, Ines, unser schöner Plan! Was machen wir denn jetzt nur?

Nur um schon beim nächsten Besuch im Ministerium die Lösung zu finden: Ines, ich habe mir das alles noch einmal genau angesehen im sechsten Stock. Ich glaube ich hab es. Also diesmal wirklich. Ein Toilettenfenster, praktisch am anderen Ende des Gebäudes, hunderte von Metern entfernt von diesem Stasibüro. Und da ist nichts Verdächtiges in der Nähe. Diesmal wirklich nicht, ich habe es ganz genau kontrolliert. Das könnte klappen, Ines. Das können wir wagen, ganz bestimmt.

So ging das die ganze Zeit. Ein einziges Wechselbad. Er kam jedes Mal mit neuen Nachrichten von seinen Dienstreisen. Einmal dachte man, man ist schon fast drüben, beim nächsten Mal war man wieder am Rand der Verzweiflung.

Aber mein Mann, der gab nie auf. Mit einer sagenhaften Hartnäckigkeit, räumte er ein Hindernis nach dem anderen aus dem Weg. Erst kam er mit diesem festen Polstermöbelstoff nach Hause, der derart robust war, dass wir einen Elefanten damit in den Westen hätten transportieren können. Dann fing er an, Hammerwerfen zu üben, auf einer verlassenen Wiese, bis er sich ganz sicher war, dass er mindestens 30 Meter weit kommen würde, vom Dach des Ministeriums über die Mauer hinweg, damit wir unser Seil spannen konnten.

Es gelang ihm tatsächlich, sich drei Seilwinden fertigen zu lassen, ohne Verdacht zu erregen, so wie er es geplant hatte. Er behauptete einfach, er wollte mit einem Nachbarschafskollektiv einen Abenteuerspielplatz für die Kinder bauen. Zum Üben spannten wir das Seil auf einer verlassenen Wiese zwischen zwei Bäumen auf. Dort klappte das Gondeln einwandfrei. Schließlich trafen wir uns so oft mit meinem Bruder in Ostberlin, bis wir den überzeugt hatten, dass die ganze Idee nicht nur eine Spinnerei war, dass das wirklich klappen konnte. Na ja, und er wollte mich ja auch selbst gerne wieder so nah wie möglich bei sich haben, da hat er dann am Ende alle Bedenken einfach in den Wind geschlagen und sich bereit erklärt, uns zu helfen. So ganz wohl war ihnen bei der Sache allerdings sicherlich nicht.

 

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