Wilhelm/ Ecke Leipziger

Wir hatten so lange Zeit damit verbracht, alles zu organisieren, unser ganzes Leben kreiste nur noch um die Vorbereitungen, dass es etwas Unwirkliches hatte, als der Tag der Flucht endlich kam.

Meine größte Sorge war Klaus, unser Sohn. Wie er damit wohl zurechtkommen würde, ob er es schaffen würde, ruhig zu bleiben, wenn er vom Dach eines 25 Meter hohen Gebäudes aus, aufgehängt an einer Seilwinde, in ein anderes Land sollte. Doch die Überraschungen, die man in solchen Situationen mit Kindern erlebt, von denen macht man sich keine Vorstellung.

Er war erst neun Jahre alt damals. Als wir ihm am Tag vor der Flucht erklärten, dass wir morgen zu Onkel Gerd nach München fahren wollten, da sagte er ganz gelassen, fast beiläufig, ach wir fliehen.

Verstehen Sie, wir waren der Meinung, dass wir nie mit ihm darüber gesprochen hätten. Woher wusste er denn überhaupt, dass wir eingesperrt waren, in der DDR, dass wir in einem Gefängnis lebten, aus dem man fliehen musste?

Und was ist, wenn sie schießen, fragte er noch. Wo um Himmels Willen schnappt ein Neunjähriger so etwas auf?

Ja, natürlich, Sie haben recht. Kinder spitzen ihre Ohren, die ganze Zeit, das unterschätzen Erwachsene immer. Wir denken, die malen, spielen etwas, die kümmern sich überhaupt nicht, um die Erwachsenengespräche, und in Wirklichkeit bekommen die alles mit. Alles!

Wir erklärten ihm, dass uns nicht passieren könnte, wir hätten an alles gedacht, alles vorbereitet, und schießen würde niemand. Das schien ihm zu genügen, er hatte keine Angst. Im Gegenteil, er strahlte, als wir ihm erklärten, dass wir mit einer Seilbahn fahren wollten, so wie auf dem Abenteuerspielplatz. Als ihm dann mein Mann noch versprach, dass er sein heiß ersehntes Fahrrad bekommen würde, wenn er ganz ruhig bliebe, und alles gut hinter sich brächte, da war sein Kinderglück perfekt.

Ich kann Ihnen gar nicht mehr so richtig sagen, ob ich sehr aufgeregt war. Ich glaube, es ging sogar. Mein Mann hatte Brompäparate besorgt zur Beruhigung. Das half. Während der Zugfahrt nach Berlin fühlte ich mich ganz ruhig, soweit ich mich erinnere. Ich versuchte mir vorzustellen, dass wir dem Jungen einfach nur das Naturkundemuseum zeigen wollten.

Die erste große Hürde war, in das Gebäude zu kommen. Dafür brauchten Sie einen Passierschein, damals. Mein Mann hatte einfach ein paar unterschlagen auf seinen Dienstreisen in das Ministerium, für Klaus und für mich. Aber die waren natürlich nicht mehr gültig.

Am Eingang war so eine Wache in Uniform. Der kam aus seinem Glaskasten heraus, um uns zu kontrollieren, farblos, streng, korrekt, wortkarg, ein echter Sicherheitsbeamter der DDR. Wenn der genau hingeguckt hätte, dann wäre die Flucht in dem Moment bereits gescheitert. Ich ging vor mit meinem Sohn. Mein Mann sollte nicht damit in Verbindung gebracht werden, wenn es schief ginge, er selber hatte einen gültigen Schein.

Der Wachmann kam langsam, mit gewichtigen Schritten aus seinem Glaskasten heraus, in dem Moment dachte ich, jetzt bleibt mein Herz stehen. Doch dann warf er nur einen flüchtigen Blick auf unsere Scheine, gab sie uns wortlos zurück und verschwand wieder in seinem Kasten. Da waren wir also durch, auch mein Herz fing wieder an zu schlagen, allerdings sehr laut.

Ein paar Minuten später kam mein Mann nach.

Den Rest des Nachmittags setzten wir uns in die Kantine und tranken Tee, in der hintersten Ecke, damit mein Mann bloß niemanden traf, den er kannte. Es zog sich lange hin, aber aufgeregt war ich nicht. Ich fühlte mich wie eine Dame, die den Nachmittag mit Hut auf dem Kopf in der Konditorei verbringt. Ganz vornehm.

In dem Ministerium war ein unheimlicher Trubel, ?in einziges Kommen und Gehen, auch in der Kantine, den gesamten Nachmittag über.

Mehr als zehntausend Menschen arbeiteten damals in dem Gebäude sagen Sie? Na kein Wunder. Um Schlag fünf Uhr allerdings war Schluss mit dem Trubel, mit einem Mal. Da hatten sie dann wohl alle Feierabend. Wir schlichen uns vorsichtig in den sechsten Stock, um in der Toilette, die mein Mann ausgespäht hatte, Position zu beziehen.

Ja, richtig. Er brachte ein Schild an, die Toilette sei defekt. Und dann blockierte er die Tür von innen, wie genau, das weiß ich nicht mehr. Dass Sie das wissen! Ach, ja richtig, das erzählt er in diesem Dokumentarfilm. Na, dann sind Sie ja wirklich bestens vorbereitet. Ich kann Ihnen doch gar nichts Neues mehr erzählen.

Das Schild hätten wir wahrscheinlich überhaupt nicht gebraucht. Nicht ein einziges Mal kam jemand an die Tür, aber mein Mann ging da lieber auf Nummer sicher. Wie bitte? Ja, natürlich hatte er recht. Wenn man so etwas vorhat, kann man nicht vorsichtig genug sein.

In der Toilette wurde das Warten dann doch sehr lang. Da konnte ich mir auch wirklich nicht mehr vorstellen, ich sei eine feine Dame in der Konditorei. Wir saßen auf dem Fußboden, mein Sohn schlief, sein Kopf lag in meinem Schoß, wir warteten und warteten, dass es endlich stockduster würde. Für meinen Mann konnte es nicht dunkel genug sein. Ja, sicher, natürlich hatte er auch da recht, aber irgendwann mussten wir einfach los. Als mein Mann um halb zehn immer noch über zu viel Licht klagte, sprach ich ein Machtwort. Mensch Bernd, sagte ich, Gerd steht da unten mit seinem Anhänger und kommt wahrscheinlich um vor Angst. Der denkt, es ist etwas schief gegangen.

Die Sache mit dem russischen Soldaten kennen Sie auch? Ja, natürlich, wenn Sie den Film gesehen haben. Von daher war es wirklich so, dass mein Bruder mehr Angst hatte, als wir uns in dem Moment vorstellen konnte. In Panik muss er gewesen sein. Nicht weil wir uns erst so spät meldeten mit unserer Taschenlampe, wie ich dachte, sondern weil dieser Soldat auf dem Dach des Ministeriums stand und alles beobachten konnte.

Wie wir später erfuhren, als wir die Akten einsehen konnten, hatte der tatsächlich alles beobachtet. Was er wohl gedacht haben muss? Nein, ich glaube das eigentlich auch nicht, dass der von einer Schleusungsaktion ausging. Der hatte wahrscheinlich keine Lust zu schießen, da hat er dann einfach nichts getan und sich hinterher die Sache mit der Schleusung ausgedacht, als Ausrede. Manchmal würde ich den gerne ausfindig machen und mich bei ihm bedanken.

Wo der jetzt wohl leben mag? Und wie?

Einer von den Helfern fuhr noch in den Osten, um uns zu stoppen. Aber da waren wir schon längst im Ministerium, saßen vornehm in der Kantine und tranken Tee. Also blieb meinem Bruder nichts anderes übrig, als die Sache durchzuziehen. Auf dem Dach konnte er uns schließlich schlecht stehen lassen. Aber die Angst war sicherlich unvorstellbar. Ich habe bis heute das Gefühl, dass ich ihm etwas schuldig bin, was ich ihm nie zurückgeben kann. Niemals.

Halb zehn etwa muss es gewesen sein, als ich meinen Mann endlich überzeugen konnte, dass wir los mussten. Wir weckten den Jungen, schwärzten unsere Gesichter mit Ruß, damit uns kein Licht verraten konnte, dann krochen wir los mit unseren Taschen. Beinahe im Liegen. Es dauerte ewig, viel länger als wir gedacht hatten.

 

A+ A-
DE