Wilhelm/ Ecke Leipziger

Als wir endlich angekommen waren an der Stelle, die mein Mann ausgeguckt hatte, gaben wir den Helfern ein Zeichen mit der Taschenlampe. Sie antworteten sofort. Und dann ging es los: Mein Mann warf seinen Hammer nach drüben.

Was soll ich sagen? Geübt ist geübt. Wir waren uns fast sicher, dass er auf der anderen Seite gelandet war, doch unsere Helfer brauchten dann doch eine ganze Weile, um ihn zu finden, da war das Bangen dann groß.

Klar war die Erleichterung groß, als dass Zeichen kam: Wir haben den Hammer, das Stahlseil sitzt fest. Das konnte mein Mann dann problemlos hochziehen. Am Ende hatten wir doch sehr viel Glück.

Ich glaube der schwierigste Moment war, als wir Klaus losschicken mussten mit seiner Seilwinde, ganz alleine in eine andere Welt. Sie können sich nicht vorstellen, wie tapfer der Junge war. Wir wollten, dass er auf einen Schwamm beißt, damit er nicht schreit.

Nein, Mama, sagte er zu mir, so bestimmt, wie Sie es von einem Kind niemals erwarten würden, das will ich so schaffen. Noch schnell eine feste Umarmung, dann gondelte er los, ruhig und unbekümmert, als sei es nicht anderes als die Hängeseilbahn auf dem Abenteuerspielplatz.

Als er dann hinter der Mauer verschwand, verkrampfte sich mein Herz. Auf einmal war mein Kind im Westen, in einer unerreichbaren Welt, und wir immer noch dort oben auf dem Dach. Da bekam ich auf einmal eine entsetzliche Angst, dass ich ihn nie wiedersehen würde.

Als nächste war ich dran. Mein Mann musste das Seil anheben, damit genug Abstand zum Dachsims war. Da kündigten sich die Schwierigkeiten, die er danach haben sollte, bereits an, aber in dem Moment machte man sich das noch nicht so klar. Wir verabredeten, dass ich mit den Helfern drüben das Seil ein bisschen lockern würde, dann wollte mein Mann es höher anbringen. Wir dachten, das würde schon funktionieren.

So kann man sich täuschen.

Mein Sitzgurt saß ganz fest, er war sicher an der Seilwinde angebracht und als ich schließlich durch die Berliner Nacht in Richtung Freiheit schwebte, da war auf einmal die ganze Angst wie weggeblasen. Es war ein phantastisches Gefühl, das werde ich nie vergessen. Wie ein Rausch. Verstehen Sie, mir wurde zum ersten Mal so richtig bewusst, dass wir unser Schicksal in die Hand genommen hatten, zuvor war kaum Zeit gewesen, darüber nachzudenken, bei all den Hindernissen, die es zu überwinden galt.

Die ganze Unverfrorenheit, der Mut und der Witz unseres Handels, nichts hätte das alles so treffend symbolisieren können wie dieser nächtliche Flug durch die Lüfte. Das spürte ich in dem Moment so klar und so deutlich wie ich selten etwas in meinem Leben wieder gespürt habe. Ich fühlte mich frei, stark und gleichzeitig so leicht wie eine Feder. Der schönste Augenblick war, als ich direkt über die Mauer schwebte, ohne Beton oder Stacheldraht auch nur im Entferntesten zu berühren. Ich war schwerelos, flog einfach darüber hinweg, über meine Gefängnismauer, wie ein Vogel. Die hatte ich immer beneidet, die Vögel, damals in Leipzig, weil sie eben genau das konnten: einfach über die Mauer hinwegfliegen, sich gar nicht darum kümmern. Der Urtraum aller Gefangenen. Wenn Sie das auf einmal selbst verwirklichen, ich sage Ihnen, da wird der nüchternste Mensch euphorisch.

Als ich kurz darauf landete, entpuppte sich das allerdings sehr schnell als der harte Boden der Realität. Ich umarmte meinen Bruder, meinen Jungen und erklärte rasch die Sache mit dem Seil. Wir lockerten es, in der Hoffnung, dass mein Mann dann mehr Spiel hätte, um es weiter oben anzubringen. Doch auch das funktionierte nicht, das Seil verlief immer noch viel zu dicht über dem Dachsims und so kam er einfach nicht los. Wir haben bis heute nicht ganz verstanden, wo eigentlich das Problem war, irgendein Denk- oder Konstruktionsfehler, die Seilbahn funktionierte einfach nicht so, wie wir uns das vorgestellt hatten.

Mein Mann kam und kam nicht. Da setzte bei mir wieder die Panik ein. Die gleiche Panik, die ich gespürt hatte, als mein Sohn alleine in der Nacht verschwunden war. Ich malte mir aus wie wir wieder reumütig in die DDR zurückkehren würden, damit wir meinen Mann wenigstens einmal im Monat in Bautzen besuchen könnten, die nächsten zwanzig Jahre lang.

Bernd kann sonst eigentlich nichts aus der Ruhe bringen. Während der gesamten Flucht hatte ich nicht einmal den Eindruck, dass er aufgeregt war. Aber in der Dreiviertelstunde, in der er alleine oben auf dem Dach dieses Monstergebäudes zurück geblieben war, und allmählich zu dem Schluss kommen musste, dass unsere Seilbahnkonstruktion ohne einen Helfer auf dem Dach nicht funktionieren konnte, da ergriff ihn echte Verzweiflung. Das gestand er mir später. So kurz vorm Ziel, der Sohn und die Frau schon in der Freiheit, und da sollte es doch noch für ihn scheitern.

Doch ich sagte Ihnen ja bereits, mein Mann gibt so schnell nicht auf. Eigentlich nie. Er ist der hartnäckigste Mensch, den ich jemals kennen gelernt habe. Und so gelang es ihm schließlich, das Seil wenigstens ein bisschen höher zu spannen. Am Ende stieß er sich praktisch auf dem Rücken liegend vom Dachsims ab. Und das reichte.

Plötzlich, ganz plötzlich, nach einer Wartezeit, die sich für mich durch nichts von der Ewigkeit unterschieden hatte, kam mein Mann über die Mauer geschwebt, direkt auf uns zu. Ein Mühlstein fiel von meinem Herzen in dem Moment. Ich wollte lachen und weinen und singen und schreien, alles zugleich. Stattdessen räumten wir so schnell wie möglich das Feld. Wir hatten wirklich genug riskiert an dem Tag.

Der Rummel, der in den kommenden Tagen und Wochen auf uns zukam, der war einfach unbeschreiblich. Andauernd wollten Presseleute mit uns sprechen, die Seilwinde fotografieren und uns gleich dazu. Wir wurden zu Empfängen eingeladen, einmal zu einem deutsch-amerikanischen Volksfest, das war das Paradies für meinen Sohn. Zuckerwatte und Karussells, das hatte er noch nie erlebt.

Mama, sagte er zu mir, nach der fünften Fahrt mit der Geisterbahn, Mama, wenn das der Westen ist, dann gefällt mir der Westen.

Sein Strahlen dabei, das hätten Sie mal sehen sollen. Da war ich mir dann ganz sicher, das werden wir nie bereuen.

Ja, wie soll ich sagen, dabei ist es dann auch geblieben. Wir sind einfach ganz gut zurechtgekommen im Westen. Ich weiß, das ging nicht allen Flüchtlingen so. Doch wir hatten Familie dort, und sicher, das nötige Quäntchen Glück braucht man auch. Wir fanden schon bald eine gute Arbeit, eine Wohnung, und Freunde fanden wir auch. Mein Sohn ist ein richtiger Bayer geworden, das ist Ihnen vielleicht aufgefallen, als Sie den Dokumentarfilm gesehen haben. Ja, die Mundart, und alles andere auch.

Ein oder zwei Freundinnen habe ich schon sehr vermisst. Aber wissen Sie, man hatte sich auch vor der Flucht schon voneinander entfernt, eben weil wir das alles planten, und man sich aber doch niemandem anvertrauen wollte. Manchmal hätte ich gerne Kontakt mit ihnen aufgenommen, danach, aber ich wollte sie auch nicht in Schwierigkeiten bringen. Das hatte ja nun wirklich überall große Wellen geschlagen, unsere Flucht, und ich bin mir sicher, von unseren Freunden und Bekannten sind danach ohnehin einige von der Stasi in die Mangel genommen worden.

Wissen Sie, wenn man so einen Schritt geht, dann muss man eben auch die Kraft aufbringen, nicht mehr zurückzublicken.

 

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