Seit bald zehn Jahren bin ich hier in Paris. Die Gäste verstehen mich kaum. Sprachen zu lernen war nie meine Stärke, doch was ich ausdrücken kann, reicht, um Bestellungen aufzunehmen, Herzlichkeiten auszutauschen und abzurechnen. Mehr brauche ich nicht.
Ich komme überall zurecht. Bevor ich nach Frankreich kam, hatte ich einen kleinen Sushi-Imbiss in Frankfurt, fast 12 Jahre lang. Davor servierte ich in New York japanische Küche aller Art, die ein findiger Wirt an einer offenen Theke zubereiten ließ, um den spendierfreudigen Bankern und Abenteurern der Stadt Appetit zu machen. Ich war in Vancouver, Sao Paolo, Casablanca und Honolulu. In den Sechzigern und Siebzigern lebte ich in den verschiedensten Winkeln von Asien. Hongkong, Bangkok, Manila, Macao, Kuala Lumpur und Singapur, als dort die meisten Menschen noch in Pfahlbauten wohnten anstatt in blitzsauberen, staatlich geförderten Eigentumswohnungen. Als sich auf der Bugis Street die Transvestiten auf den Schößen der betrunkenen Seeleute räkelten oder den Touristen schmeichelten, sie unterm Kinn kraulten. Eine Weile war ich in Afrika: Accra, Ouagadougou, Kairo.
Ich liebe Reisen. All die Menschen, die ich getroffen habe, die unterschiedlichen Speisen, die verschiedenen Arten zu leben, zu lieben und zu leiden. Ob schwarz, ob braun oder weiß, ob jung oder alt, ob reich oder arm – am Ende sind sie sich doch alle so ähnlich die Menschen, mit ihren Sehnsüchten, ihren Leidenschaften, ihren Ängsten und ihren Träumen. Ich brauche nicht mit ihnen zu reden, um das zu verstehen. Ich beobachte sie, ihr Gesicht, ihre Gestik, wie sie sich bewegen, wie sie mit Fremden und mit Freunden reden, wie sie schweigen. Wer genau beobachtet, sieht alles.
Am meisten liebe ich die ganz großen Metropolen. Immer wieder hat es mich hierhin gezogen. Alle zusammengewürfelt in einer Stadt, die Mühseligen und Beladenen, die unter die Räder Gekommenen, die Privilegierten, denen alles in die Wiege gelegt wurde und die dann doch so oft ersticken an ihren Regeln und ihren Ansprüchen, die Goldgräber, die aus der Provinz, manchmal aus fernen Ländern gekommen sind, um das große Geld oder das Glück zu finden, und die Lebenskünstler, die die Freiheit und die Anonymität der Großstadt nutzen, um so zu leben, wie es ihnen gefällt. Alle sind sie hier. Sie leben nebeneinander her, oft in ganz anderen Gegenden der Stadt, sie kennen sich kaum. Doch manchmal führt der Alltag sie zusammen, meist nur für einen Augenblick. Vielleicht rempelt der eine den anderen in der Metro an oder bittet ihn um ein bisschen Geld, eine Zigarette, eine Wegbeschreibung. Dann treffen sie sich, müssen aufeinander eingehen. Dann gibt es etwas zu sehen. Um nichts in der Welt würde ich diese Momente missen wollen.
Ich komme aus einer ganz kleinen Stadt, Misawa in der Präfektur Aomori, im Norden von Japan. Sie liegt an einem lieblichen See. Der Winter ist rau und kalt, auch der Herbst ist frisch und bringt oft strengen Wind von der See. Der Sommer ist sonnig und oft viel zu heiß. Das Licht taucht die Reisfelder in ein warmes, beinahe goldenes Gelb. Der Frühling übertrifft alles. Auf all meinen langen Reisen habe ich selten etwas so Schönes gesehen wie die Kirschblütenzeit am Ogiwakasee.
In Misawa kennt jeder jeden. Jeder hat eine fest zugeschriebene Rolle. Der Fleischer und der Fischhändler, der Gemüsehändler auch. Die Friseurin, die Angestellten in dem Elektronikunternehmen, in dem ich eine Zeit lang arbeitete, und die Arbeiter auf der amerikanischen Luftwaffenbasis. Man weiß, wer sie sind, woher sie kommen, wohin sie wollen und wofür sie stehen. Für viele dort ist es die beste Art zu leben.
Mein Vater war Fischer wie davor bereits sein Vater. Mit Sushi kehre ich zu einer uralten Familientradition zurück. Meine Vorfahren trotzten ihr Leben lang dem Meer das Nötigste ab, in einem kleinen Boot, mit nur einem Gehilfen, auch als schon längst riesige Fischfangflotten für hoffnungslose Überfischung gesorgt hatten und die kleinen Fischer immer weiter hinausfahren, immer länger draußen bleiben mussten, um ihr mageres Dasein zu sichern. Als mein Vater starb, hielt sein Gehilfe die Grabrede. Die beiden hatten sich über siebzig Jahre gekannt, hatten gemeinsam die Grundschule besucht. Sie wussten alles übereinander. So etwas wird es für mich nie geben. Viele meiner Kameraden aus der Grundschule leben noch dort, in Misawa, sicher, andere sind nach Tokio gegangen oder in die anderen Großstädte Japans. Viel gibt es nicht, worauf man ein Leben aufbauen könnte, im Norden. Schön, aber arm. Doch selbst die geblieben sind, werden sich kaum noch an mich erinnern. Ich bin schon mehr als vierzig Jahre unterwegs.
Mir ist die Fremde vertraut, die Veränderung ist mein Lebenselixier. Wo ich meinen Kopf niederlege, da ist mein Zuhause.
Meinen Gästen hier im Sushi-Restaurant geht es gut. Sie sind mit allen Vorteilen ausgestattet. Franzosen aus dem Viertel, die in mein kleines Lokal kommen, mit Freunden, Familie und mit guter Laune. Manchmal verirrt sich ein verwegener Tourist hierher. Ein Reisejournalist hat mich irgendwann einmal in seinen Führer aufgenommen. Meine Sushi sind teuer, ich wähle nur den besten Fisch aus. Ich lebe von der Frische, von der japanischen Qualität und von der Liebe, mit der ich meinen Fisch zubereite. So kann ich höhere Preise nehmen und mein Restaurant rechtzeitig schließen, damit mir noch Zeit bleibt, um mich auszuruhen. Früher in New York bin ich manchmal 12 Stunden am Tag durch das Lokal gewirbelt, das hat mir nichts ausgemacht, es gab so viel zu sehen. Doch ich bin ein alter Mann geworden, und ich habe nicht die Absicht, mich zu quälen.
Ich habe ein kleines Zimmer, direkt über meinem Lokal. Ein Bett, ein Tisch, ein kleiner Fernseher und eine winzige Küche, mehr brauche ich nicht. In meiner Straße wohnen Rentner und kleine Angestellte, die schon immer hier gelebt haben, lange bevor das Viertel so beliebt und teuer geworden ist. Auch ein paar Schwarze und Araber sind hier zuhause. Sie profitieren von alten Mietverträgen oder davon, dass die Gebäude, in denen sie leben, bald zusammenfallen. Und der eine oder andere Chinese. Gegenüber betreibt ein junges Paar ein algerisches Restaurant. Sie kocht selbst, ganz ausgezeichnet. Leider läuft es nicht sehr gut. Ein bisschen zu groß, ein bisschen zu teuer, und die algerische Küche gefällt nicht so sehr, jedenfalls nicht der Mittelklasseklientel, die die beiden anlocken wollen, mit ihrer edlen Inneneinrichtung. Schade. Aller Anfang ist schwer. Die beiden sind hier im Viertel geboren. Sie sind sehr nett. Hatten die Geduld mir zuzuhören und mir ihre Geschichte zu erzählen, als ich einmal ihr Restaurant besuchte. Zwei Häuser weiter verkauft ein Franzose Spielzeug in einem traditionsreichen Laden, den er von seinem Vater übernommen hat. Sehr freundlich, sehr ruhig, einfach und doch auf seine Weise vornehm. Ein Gewächs dieser Stadt.
Wenn ich zwischendurch auf die Straße trete, weil gerade keine Gäste da sind, kann ich das bunte Treiben beobachten. Die Jugendlichen, die mit ihren Motorrädern durch die Straße sausen, die Juden, die am Sonnabend mit ihrer Kippa und ihren Kindern zur Synagoge gehen, die Männer und Frauen, die ihre Einkäufe in hunderten von Plastiktüten nachhause schleppen. Manche sind traditionell gekleidet, in gedeckten Farben, manche sportlich und jugendlich. Manche haben einen so krummen Buckel, dass sie mit dem Gesicht fast den Boden berühren. Sie schleppen sich im Zeitlupentempo durch die Straßen. Beinahe bekommt man Rückenschmerzen, allein vom Zusehen. Es muss schwer sein, so zu leben. Immerhin sind sie hier im Viertel gut aufgehoben. Es gibt viele kleine Läden, den Fleischer, den Bäcker, den Blumenladen und die Friseure. Dort kennt man die Alten, Alteingesessenen, beim Namen. Die Verkäufer empfehlen ihnen ein schönes Stück Fleisch oder einen Fisch, der leicht zuzubereiten ist, sie helfen ihnen aus der Tür und sie ermahnen sie, zum Arzt zu gehen oder sich ein Wägelchen anzuschaffen, damit das Einkaufen leichter wird. Ehe ich so gebrechlich werde, muss ich mich im Viertel genau so bekannt gemacht haben, Sprachbarrieren hin oder her. Oder ich muss doch zurück nach Misawa. Die nehmen mich bestimmt wieder auf. Japan lässt seine Alten nicht im Stich.
Am liebsten beobachte ich die Afrikanerinnen. Bei so manch einer möchte man meinen, sie wähnte sich immer noch in ihrem Heimatdorf. Junge Mütter in ihren langen, farbenprächtigen Kleidern mit passender Kopfbedeckung, noch kunstvoller gewunden als das Tuch im gleichen Muster, das das jüngste Kind auf dem Rücken hält. Meistens ziehen sie noch zwei, drei weitere Kinder hinter sich her. Andere sind hier geboren, durch und durch Pariserinnen, enge Jeans, eng anliegende Strickoberteile, die bis zum Oberschenkel reichen, Lederjacke und bunte Turnschuhe. Sie tragen eine geschickt gefälschte Markenhandtasche über der Schulter, anstatt ein in Tücher geschnürtes Kind. Ihre langen, in darauf spezialisierten Friseursalons sorgfältig bearbeiteten Korkenzieherlocken geben ihnen das Aussehen von Fotomodellen oder von Pop-Sängerinnen. Und doch gibt es immer etwas an ihnen, das an Afrika erinnert. Ihr elastischer, gazellenhafter Gang vielleicht, die langen schlanken Beine, das stolze Wiegen ihres Hinterteils, das sich kräftig von ihren schmalen Hüften aus nach hinten wölbt, nicht breit zur Seite, wie bei den Europäerinnen, oder gar nicht wie bei den Asiatinnen. Die afrikanischen Frauen haben mir immer gut gefallen. So sinnlich!
Irgendetwas trägt man immer mit sich von seiner Heimat und ihren jahrhundertealten Traditionen, auch wenn man sie selbst nie gesehen hat. All die Chinesinnen, die mühselig durch das Viertel tippeln, als hätten sie verkrüppelte Füße. Wahrscheinlich tragen sie Schuhe, die ihnen zu klein sind. Immer schon. Vielleicht wissen sie gar nicht, dass sie damit den alten chinesischen Brauch fortführen, Töchtern aus reichem Hause im Kindesalter die Füße in feuchte Tücher zu binden, damit sie klein bleiben. Verkrüppeln, für immer.
Manchmal fragen die Gäste mich, warum ich all die Kinderfotos sammele. Ich liebe Kinder. Ich kann nicht genug von ihnen bekommen, von ihrem Lachen, ihren runden Knopfaugen und ihrer Lust zu lernen. Alle Freunde, die ich je gehabt habe, und alle engeren Bekannten, die Kunden, mit denen ich mich ein bisschen unterhalte, versprechen mir zu schreiben, wenn ein Kind kommt, und Fotos zu schicken. Die meisten halten ihr Versprechen. Und da hängen sie nun. Säuglinge und Kleinkinder aus vier Jahrzehnten, manche Bilder sind bereits vergilbt. Viele der Kinder sind schon lange nicht mehr so niedlich und unbekümmert wie auf den Fotos. Sie haben jetzt Sorgen, Krankheiten und graue Haare. Ich aber behalte sie in Erinnerung, so wie sie waren, damals, als sie ganz frisch anfingen.
So wie ich meinen Jungen in Erinnerung behalte. Shinji. Er war zwei Jahre alt, als er mit seiner Mutter in den Trümmern des Wohnblocks begraben wurde, in dem wir eine kleine Wohnung hatten. Es war das Erdbeben von Misawa, 1968. Nicht sehr groß, nur zwanzig Tote und ungefähr zweihundert Verletzte. Die meisten hier haben davon nie gehört.
Damals war ich ein wirklicher Japaner, ein Salaryman. Ging jeden Morgen in die Firma und verrichtete 12 Stunden lang meinen Dienst. Ich war Buchhalter in einem Industrieunternehmen, das heute noch Elektronikelemente für Autos und Maschinen in alle Welt exportiert. Die Firma und ich, wir waren verheiratet. Wenn ich ihr treu geblieben wäre, so wie es die japanische Tradition vorsieht, dann wäre auch sie mir treu geblieben. Durch all die Immobilienblasen, Zusammenbrüche, Stagnationen, Deflationen, Katastrophen und Depressionen, die mein Land, seine Unternehmen und seine Menschen seither durchgemacht haben. In guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Ruhestand uns scheidet. Meine Kollegen sind alle noch da, in der Firma. Sie hat ihr Versprechen gehalten. Sie hat sich verändert, hat sich den neuen Zeiten angepasst, um weiter erfolgreich zu sein. Auch das ist eine große japanische Tradition.
Heute geht sie solch enge Beziehungen kaum noch ein, die Firma mit ihren neuen Angestellten. Die meisten jungen Leute arbeiten als Freeter, als Teilzeitjobber, hier mal drei Monate, dort mal ein Jahr. Und das, obwohl sie viel länger und viel besser studiert haben als wir damals. Treue und Loyalität zwischen den japanischen Unternehmen und ihren Angestellten, das ist irgendwo im Goldrausch des westlichen Kapitalismus untergegangen, als die Immobilienpreise erst in die Höhe schossen und dann explodierten, wie ein Feuerwerk beim Kirschblütenfest. Nur die Eleganz des Kirschblüten-Feuerwerks hat gefehlt, das kleine, fein abgestimmte, wohl überlegte. Der große Krach von 1990 war eher wie die wilden, ungeordneten Explosionen, die in Frankfurt in der Sylvesternacht stattfinden, wenn alle einmal im Jahr nach Herzenslust Feuerwerkskörper in die Luft schießen dürfen.
Damals, als meine Frau, meine liebe, zarte Frau, und mein fröhlicher, kleiner Junge vom Erdbeben überrascht wurden, da war Japan noch ein einziges Versprechen von ewiger Treue, Loyalität und Sicherheit. Jeder spielte seinen Part, so wie er ihm von der Gesellschaft zugedacht war. Das war die Formel für Wohlstand, Sicherheit und geordnete Verhältnisse. Ich hatte mich meiner Firma verschrieben, hatte ihr versprochen, mich ein ganzes Arbeitsleben lang ihren Regeln und Abläufen anzupassen, ihr meine Kraft und fast all meine Zeit zu widmen. Und sie hatte versprochen, mich dauerhaft zu beschäftigen, mich zu bezahlen, mir ein sicheres und geordnetes Leben zu ermöglichen, damit ich die Wohnung bezahlen konnte, meine kleine Familie ernähren und auf eine sichere Rente hoffen, die es mir erlauben würde, ins Ausland zu reisen, das Louvre sehen, die Vatikanstadt, Rothenburg ob der Tauber und Angkor Vat. All die schönen Dinge, für die während eines japanischen Arbeitslebens nie Zeit ist.
Meine Frau und ich, wir hatten uns zwei Jahre vorher kennen gelernt, als die Stadt gebrannt hatte. Ich war bei der freiwilligen Feuerwehr damals und barg sie aus einem brennenden Haus. Ich war ihr Retter in der Not, ihr Ritter auf hohem Ross. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie war so sanft und so fröhlich, sie war selbst noch ein Kind. Wir warteten nicht lange damit, unseren Shinji zu zeugen.
Natürlich heirateten wir sofort. Ich sehe sie noch vor mir am Hochzeitstag, so zerbrechlich und so jung. Wir zogen in eine kleine Wohnung und schickten uns an, ein langes, stabiles, geordnetes japanisches Leben miteinander zu führen, ich in Treue und Ergebenheit zu der Firma, in der ich bald zu arbeiten begann, und sie in Treue und Ergebenheit zu mir, unserem Haushalt und unserer kleinen Familie. Es versprach nicht viel Abenteuer, dieses Leben, doch ich war glücklich damit. Wir liebten uns. Sie kochte wunderbar, meine Kumi. Wie sie die Speisen auf dem Teller anrichtete, das waren kleine Kunstwerke, voller Phantasie, Anmut und Präzision. Wie man den besten Fisch aussucht, wie man Sushi zubereitet, dekoriert und auf dem Teller anrichtet, das habe ich alles von ihr gelernt. Das heißt, damals lernte ich es natürlich nicht. Ich hätte es nie gebraucht, in unserem Leben, so wie es geplant war. Aber sie kamen zurück die Erinnerungen, als ich sie brauchte. Kumis guter Geschmack und ihre Kunstfähigkeit sind es, die meinem winzigen Sushi-Laden zu ihrem Erfolg verholfen haben. Selbst nach 12 Stunden Buchhaltung wirkte das Leben nicht mehr eng und einspurig damals, wenn ich nachhause zu ihrem hellen, fröhlichen Lachen kam, in ihr liebevoll gestaltetes Reich. Unsere Spaziergänge am Ogiwakasee mit Shinji im Kinderwagen oder später auf meinen Schultern gehören zu den schönsten Erinnerungen, die ich habe.
Das Unglück, das uns trennte, war eigentlich viel kleiner, als der große Brand, der uns zusammengeführt hatte. Den Alten zufolge sah die Innenstadt nach den großen Bombenangriffen im Krieg nicht schlimmer aus als nach dem Brand. Beim Erdbeben hingegen fielen nur ein paar Häuser. Unseres war dabei. Es war alt, anders als japanische Einfamilienhäuser aus Holz recht massiv und doch nicht erdbebensicher. Eine schlechtere Wahl hätten wir nicht treffen können. Weil wir jung waren, hatten wir ein bisschen sparen wollen. Ich hatte doch gerade erst meine Stelle in der Firma bekommen und mein Gehalt war noch gering.
Es waren meine alten Freunde von der Feuerwehr, die zur Firma kamen, um mir die Nachricht zu überbringen. Wir waren alle auf die Felder vor der Unternehmenszentrale gelaufen, um uns vor dem Beben zu schützen. Da kamen sie mich holen.
Als ich Kumi und Shinji sah, so bleich, so zart, zwei unschuldige Kinder, da wusste ich sofort, dass ich es nicht noch einmal machen könnte. Der Traum vom japanischen Leben, Treue, Loyalität und Ergebenheit gegen Sicherheit und Aufstieg, dieser Traum war mit Kumi und Shinji unter den Trümmern unseres Hauses begraben worden. Sie waren Arm in Arm gestorben.
Ich glaube, wir Japaner arbeiten so hart daran, Sicherheit und Beständigkeit aufzubauen, weil wir im Grunde wissen, dass uns niemand die Dauerhaftigkeit unseres irdischen Glück garantieren kann. Wir tun unser Bestes, unsere Häuser und unser Leben erdbebensicher zu bauen, oder legen wenigstens alles so an, dass wir es nach einer Katastrophe schnell wieder aufbauen können. Eine sichere Arbeit, eine sichere Ehe, reiche Ersparnisse, solide bei der Post angelegt, Pflichtbewusstsein, Anpassung und Ergebenheit all jenen, die uns dafür Sicherheit bieten können. Wir halten immer einen Rucksack mit dem Wichtigsten zuhause bereit, mit dem Postsparbuch, um nicht alles zu verlieren, wenn wir schnell fliehen müssen. Und doch wissen wir im Tiefsten unserer Herzen, dass die Natur uns all die Sicherheit, die wir uns aufgebaut haben, die Wohnung, die Arbeit, das Sparbuch, die Liebe und die Kinder in nur wenigen Sekunden nehmen kann. Wenn sie es für richtig hält, dann nimmt sie uns, was wir uns mühselig erarbeitet haben, durch Fleiß, Sparsamkeit und Anpassung, mit einem einzigen Streich. Sie lässt den Boden unter unseren Füßen beben, bis alles, was wir uns aufgebaut haben, was so solide und unerschütterlich wirkte, wie Blätter durch die Luft wirbelt. Vom Winde verweht oder von einer riesigen Welle einfach davon geschwemmt. So komplex und erfolgreich unser Gesellschaftssystem auch ist, am Ende ist es die Natur, die unsere Insel beherrscht. Es ist die Natur, die über unsere Geschicke bestimmt.
Ich bin nicht der erste Japaner, der ein solches Schicksal erleidet. Die meisten sammeln die zerstörten und weit verstreuten Überreste ihres Daseins wieder auf, akzeptieren ihr Schicksal und fangen noch einmal von vorne an. Doch für mich war der Anblick von Kumi und Shinji unter grauen Decken in der Turnhalle, in der sie die Toten aufgebahrt hatten, das Ende des japanischen Versprechens.
Ich beerdigte die beiden. Zwei Monate später ging ich zur See.
Ich habe meine Wahl nie bereut. Ich habe so viel erlebt, so viel gesehen. Ich kann fast behaupten, dass ich ein glücklicher Mensch bin. Zufrieden jedenfalls. Weil ich die Lehren von damals akzeptierte, dass alles Glück und aller Besitz dieser Erde nur eine Leihgabe der Natur ist, die sie uns jeden Moment wieder nehmen kann. So wie es ihr gefällt. Deswegen habe ich Kontinuität und Beständigkeit hinter mir gelassen, mein ganzes japanisches Wesen. Meine Landsleute bauen Trutzburgen gegen Katastrophen, Umwälzungen und Unsicherheit. Ich hingegen habe Umwälzungen und Unsicherheit als mein Lebensprinzip angenommen, nachdem meine Burgen alle gefallen waren. Von dem Tag an versuchte ich dem Leben nur noch das Glück abzutrotzen, was es mir für den Augenblick gab. Ich fragte nicht mehr nach Dauerhaftigkeit. Im Gegenteil, Veränderung wurde mein Lebenselixier. Ich habe wieder geliebt, ich fand Freunde, einmal kaufte ich sogar eine kleine Wohnung, in Frankfurt, wo alle mieten, doch nie wieder habe ich den Anspruch auf Ewigkeit erhoben.
Das hat mir Leichtigkeit gegeben, fast so als könnte ich fliegen.