Mit heftigen Hieben seines Gewehrs teilte Wilhelm Äste und Zweige. Plötzlich verschwand er im Unterholz. Wie ein Wildschwein. Ein Wildschwein auf der Flucht vor den Treibern.
Wilhelm, der Gejagte, war auf Wildschweinjagd. Versteckte sich in dichten Büschen, um Ruhe zu finden, nur ein paar Stunden lang.
Ruhe vor den Blicken. Ruhe vor dem hämischen Lächeln der Nachbarn, der Jugendfreunde, der entfernten Bekannten in der Stadt. Selbst das Gesinde auf dem eigenen Hof lachte hämisch.
Ruhe vor den Andeutungen.
„Na Willem, schon wieder den ganzen Tag gejagt und nichts erlegt als schmutzige Knaben.“
Ruhe vor den Anfeindungen.
„Schmutziger...“
„Dreckiger...“
„Widerwärtig...schämen sollte der sich, ein Junge aus gutem Hause.“
„Der gehört ja auf den Scheiterhaufen, da gehört er hin. Und so etwas will in die feine Glashüttenfamilie einheiraten. Dass die solchen Abschaum überhaupt in ihr Haus einladen. So einen würd' ich als Knecht nicht haben wollen.“
Ruhe vor der hilflosen Verzweiflung der Mutter.
„Aber Junge, du musst doch … du kannst doch nicht. Wo soll das denn noch alles enden?“
Vor der feindseligen Häme des Bruders.
„Du fällst noch Bruder. Danach werd' ich als Schönheit durchgehen gegen dich. Du hältst dich für Hans im Glück, doch auch Goldlockenjungen mit zartrosa Lippen wie deinen können den Bogen nicht endlos überspannen. “
Vor der blinden Wut des Vaters.
„Wenn du mir mein Geschäft kaputt machst, mit deinen Schweinereien. Die Familienehre. Deine Schwester.“
Als der Vater von Heinrich, Schwester Erikas Verlobtem, zu ihnen gekommen war, um die Hochzeit zu verschieben, wegen der Unklarheiten, so hatte er sich ausgedrückt, da hatte der Alte wieder mit seinen knorrigen Händen an Wilhelms Kragen gehangen. Leblos, am Ende, wie ein Toter. Nicht einmal sein keuchender Atem war noch zu hören gewesen. Über Minuten hatte er versucht, Wilhelm zu schütteln, ihn gegen die Wand zu schleudern, mit aller Macht. Am liebsten hätte er ihm den Schädel zertrümmert.
Ruhe.
Ruhe, Ruhe, Ruhe.
Ruhe vor alledem.
Curt hatte er seit Wochen nicht mehr gesehen. Kam ihm das Grunzen eines Wildschweins im Unterholz merkwürdig vertraut vor, dann machte er kehrt.
Es ging ja nicht, er konnte ja nicht, wie sollte er denn? Es redeten ja alle!
Das Geschäft, und der Hof und die Familie und die Zukunft...
Wilhelm hörte es knacken. Ein Hagebuttenstrauch, nicht weit von ihm, hatte sich in Bewegung gesetzt. Schnaufte.
Der Hagebuttenstrauch schnaufte und grunzte und schüttelte sich. Rüttelte und schüttelte sich und grunzte wie ein Schwein.
Wilhelm legte das Gewehr an.
Da beruhigte sich der Strauch. Ganz plötzlich. War still, als wäre nie Leben in ihm gewesen.
Jetzt kam ein Knacken hinten aus den Tannen. Nichts Verwunderliches, eigentlich. Schließlich war Wilhelm im Wald. Vögel, Kleintiere, Wild, es knisterte und knackte überall. Überall und imerzu. Doch er war nervös. Ausgelaugt von der wochenlangen Hetzjagd, verwundbar. Er drehte blitzschnell den Oberkörper und richtete sein Visier auf das Geräusch. Hinter den Tannen schien eine Gestalt durchzuschimmern. Kein Kleintier, etwas Größeres. Scheu. Zog sich sofort hinter die Tannenbaumstämme zurück. Kein Reh, dafür war es nicht flink genug. Der Schatten hinter den Tannen wirkte plump und behäbig. Ein alternder Hirsch vielleicht, nur das mächtige Geweih war ihm noch geblieben, von seiner stolzen, aufrechten Gestalt. Von dem prachtvoll glänzenden Fell, unter dem sich jede Bewegung seiner Sehnen und Muskeln abzeichnete, wenn er lautlos und majestätisch durch die Wälder schritt. Die Muskeln waren erschlafft, der Glanz des Fells war abgestumpft, den einst mächtigen Nacken hielt er nur noch mit Mühe aufrecht.
„Willy“, flüsterte es im Hagebuttenstrauch. „Nicht schießen, Willy. Dein Vater.“
Wilhelm sah einen gewaltigen Eber aus dem Hagebuttenstrauch springen, machte sich bereit zum Schuß, drückte schon ab, da teilten sich die Zweige, nur ein winziges Stück. Ein vertrautes Augenpaar. Sie hatten nichts von einem Wildschwein. Dunkel, tief und verführerisch, wie der Wald. Beruhigend und verstörend zugleich. Er zerriß Wilhelm, dieser Blick, wie hätte es anders sein können?
Und wenn er nun doch schoss?
Doch da bewegte sich wieder etwas hinten den Tannen. Wilhelm drehte sich ruckartig, suchte mit seinem Gewehrlauf den greisen Schatten. Der hatte den Moment der Verwirrung genutzt, um sich an Wilhelm und das flüsternde Wildschwein heranzupirschen. Er will es zum Kampf herausfordern, schoss es Wilhelm durch den Kopf. Es bedroht seine Herrschaft mit seinen widerspenstigen Borsten, mit seinem frechen Grunzen, gräbt im Schlamm und untergräbt dabei sein Lebenswerk. Er zielte mit zitternden Händen auf den Schatten, der wieder irgendwo zwischen den Tannen verschwunden war. Oder der Angriff galt ihm, Wilhelm. Vielleicht wollte der Hirsch ihn diesmal aufspießen auf seinem immer noch stolzen Geweih, anstatt sich mit greisen, knorrigen Händen kraftlos an seinen Kragen zu hängen.
Und wenn er schoß? Um den totgeweihten Hirsch zu erlösen? Ihn zu erlösen von diesem Leben, in dem Jüngere, Kräftigere sich nicht damit begnügten ihn von seiner Stellung zu verdrängen, damit hätte man ja noch leben können und in Frieden sterben, schließlich war das der Lauf des Lebens. Aber nein, sie mussten gleich den Lauf des Lebens auf den Kopf stellen, die gesamte Ordnung untergraben, über die er mit seinem stolzen Gang ein Leben lang geherrscht hatte.
Diese Ordnung war er gekommen zu verteidigen. Blitzschnell stürzte sich der eben noch so gebrechliche Schatten in Richtung des Wildschweinverstecks. Wilhelm hatte den Finger auf dem Auslöser, beinahe hätte er schon abgedrückt, da schoss wie ein Pfeil ein zweiter Schatten aus dem Gebüsch hervor. Wilhelm riss sein Gewehr herum.
Ein Knall hallte durch die moosige Waldluft.
Dann ein dumpfer Schlag.
Wilhelm ließ sein Gewehr sinken.
Vor dem Hagebuttenstrauch lag ein kräftiger, brauner Körper mit borstigem Haar.
Die Erklärung, für das, was hier vor sich ging, las Wilhelm vom Innern seiner Stirn ab. Der greise Hirsch hatte das Wildschwein erlegt. Oder sollte sich etwa aus seinem eigenen Gewehr ein Schuss gelöst haben? Wilhelms Gewehr, dem Gewehr des Gejagten.
Nicht schießen, Willy, dein Vater, hörte Wilhelm eine vertraute Stimme flüstern, beruhigend und verstörend zugleich.
Er sah einen fröhlich lachenden Jungen übermütig aus einem Hagebuttenstrauch ins goldene Spätsommerlicht springen. Der Geruch von frischem Heu lag in der Luft, keine Spur mehr von der modrigen Würze von Bärlauch und Moos. Über dem borstigen Haar des Jungen tanzten Schmetterlinge.
Der Vater war aus den dunklen Tannen getreten, auch er hatte sein Gewehr sinken lassen. Sein Gewehr-Geweih, das letzte verbliebene Zeichen seiner Macht und seiner Herrlichkeit. Jetzt schien es als stützte er sich darauf. Der gebrechliche, gebrochene Hirschvater.
Auch Wilhelm hätte sich gerne auf sein Gewehr gestützt, die Beine waren ihm schwach geworden. Er blickte wieder zum Hagebuttenstrauch, sah einen lachenden Jungen herausspringen, er sah Spätsommersonne und goldene Ähren, er sah Licht im dichten, dunklen Wald.
Wilhelm sehnte sich nach dem Jungen, er lief ihm hinterher, ließ sich auf ihn fallen. Er wollte in ihm versinken, mit ihm verschmelzen. Nur nicht mehr so abgetrennt auf der Welt sein.
Und furchtbar allein.
Als Wilhelm sich endlich fallen ließ, fiel er auf das erlegte Wildschwein, das vor dem Hagebuttenstrauch lag. Sein Körper war kräftig. Kräftig und leblos zugleich. Sein borstiges Haar versank im modrigen Schlamm. Tanzende Schmetterlinge suchte Wilhelm vergebens. Stattdessen mischte sich Blut unter den Schlamm. Ein modriger Geruch von Moos und Bärlauch lag in der Luft. Keine Spur mehr von Frische und Ähren und Heu. Für immer verloren.
Der Hirschvater öffnete den Mund, schien Worte damit zu formen.
Hei grenzet as en Swin.
Doch alles, was Wilhelm hörte, war ein gellender Schrei.
„Cuuuuuuuuuurt.“
Die Stille danach war dumpf und schwer.