Hedwig zog die weiße Gardine zur Seite und sah aus dem Fenster. Der Asphalt war noch dunkel vom Regen. Auf der anderen Straßenseite reihte sich Mietskaserne an Mietskaserne, ein grauer Kasten neben dem anderen. Sie hätte aus dem Küchenfenster blicken können, nach hinten hinaus, doch was half das schon. Es war das gleiche Bild.
Wie sie den Garten vermisste, auf den sie von ihrem Küchenfenster aus geblickt hatte, zu Hause in Mielsdorf. Die Blumenbeete und die Hühner, die vor dem Stall auf und ab stolziert waren, nach Körnern gepickt hatten. Dahinter der See, wo sie im Sommer gebadet hatten, nackt, wenn niemand zusah. Es war der See, in dem eines Frühlings ein wütender Schwan ein Kalb ertränkt hatte, das seinen Jungen zu nahe gekommen war. Niemand hatte dem verzweifelt um sein Leben kämpfenden Jungtier helfen können, auch Fritz war zu spät gekommen mit seinem Jagdgewehr.
Der See hatte an einem kleinen Hain gelegen, dahinter Felder und Landstraßen, von Pappeln gesäumt, so weit das Auge reichte. Vom Wohnzimmer aus hatte man auf die rote Kinderschaukel im Vorgarten geblickt und auf den Gartenzaun, der das Grundstück von der kleinen, gewundenen Dorfstraße trennte.
„Hühott“, hatte Fritz gerufen, mit seinem sonoren Bass, wenn er mit der Kutsche vorgefahren kam. Und „bbbrrrr“. Die Pferde hätten auch so gehalten, aber sie, Hedwig, sie hatte doch wissen sollen, dass ihr geliebter Mann zurück von den Feldern gekommen war oder aus Danzig, wo er die Preise für die Ernte mit den aalglatten Kaufleuten der Stadt verhandelt hatte. Fritz, ihr Bär von einem Mann, ihr ganzer Kerl, der schon zum Frühstück gerne eine halbe Ente verspeist hatte. In der Blüte seiner Jahre hatten sie eine Kuhle tischlern lassen müssen, damit er mit seinem mächtigen Bauch noch bequem an den Esstisch passte. Damals in Preußen hatten die Männer nur ihr Gewicht angegeben, das über zwei Zentner lag. Alles darunter hatte nicht gezählt.
Hedwig hatte sich nie daran gewöhnen können, wie er zusammengefallen war, ihr Fritz, auf der Flucht und danach, während der mageren Jahre, die sie in der Waschküche eines Malermeisters bei Lüneburg verbracht hatten, mit der ganzen Familie: Lenchen, ihr Mann, die drei Kinder, Fritz, als er sich endlich zu ihnen durchgeschlagen hatte, und sie. Bis der Malermeister aus Kriegsgefangenschaft zurückgekommen war und sofort seinen ganzen Einfluss bei der Stadtverwaltung geltend gemacht hatte, um ihnen eine Wohnung zuweisen zu lassen. Nicht geräumiger als die Waschküche, zwar, aber immerhin waren sie für sich gewesen. Mit der Zeit hatten sich ihre Lebensverhältnisse gebessert, doch Fritz hatte nie zurückgefunden zu der alten Herrlichkeit. Er war mickrig geblieben bis zum Schluss.
Damals, zu Hause, wenn sie vor die Tür getreten war, um Fritz zu begrüßen, war Barry, der deutsche Schäferhund, schon längst von seinem Platz unter der Treppe hervorgeschossen und hatte gebellt, als müsste er dem ganzen Dorf mitteilen, dass sein geliebtes Herrchen nach Hause gekommen war. Er war am Zaun entlang gerast, so schnell, dass er sich beim Wenden beinahe überschlagen hatte. Immer und immer wieder hatte er zu gewaltigen Sprüngen angesetzt, sich danach um sich selbst gedreht. Er hatte sich nicht davon stören lassen, dass er den Zaun noch nie überwunden hatte, er wollte seinem Herrchen entgegenkommen, um jeden Preis, ihm seine Freude zu Füßen legen.
Wie gut Hedwig ihn verstanden hatte. Am liebsten hätte sie es damals dem Hund gleich getan. Wie gerne hätte sie Fritz' Heimkehr jedes Mal mit lautem Jubeln gefeiert, wäre mit ausgebreiteten Armen durch den Vorgarten geschossen, hätte schließlich einen Satz über den Gartenzaun genommen, um ihm mit dem gleichen Schwung um den Hals zu fallen.
Und sie, sie hatte laut gehupt, wenn sie mit ihrem Motorrad losgeknattert war, in die Stadt oder einfach, um sich auf preußischen Pappelalleen den Wind um die Nase wehen zu lassen, immer an der Weichsel entlang. Hupen und Pferde antreiben, das war ihr Brunftgeschrei gewesen, damals, als sie die Heimat noch hatten, Hedwig und Fritz, als sie noch strotzen vor Kraft und vor Zuversicht.
Was waren das für Zeiten gewesen, damals zwischen den Kriegen, wie sie ihr Leben genossen hatten! Lange Arbeitstage, üppige Mahlzeiten, stets ein Schnaps am Ende. Ausflüge in der Kutsche, manchmal auch direkt auf dem Pferderücken, oder sie auf dem Motorrad mit Lederhaube und in Hosen. Tanzen in Danzig und Spielen in Zoppot. Der wilde Fritz und die ungestüme Hedwig, so hatten die Nachbarn sie damals im Dorf genannt, und auch so mancher Arbeiter, heimlich, wenn er glaubte, man könne ihn nicht hören. Aber natürlich war es ihnen doch zu Ohren gekommen, immer. Im Dorf ließ sich nichts lange verheimlichen. Weder Hedwig noch ihr stattlicher Fritz hatten sich daran gestört. Ihr Hof war das ertragreichste Gut im ganzen Landkreis gewesen, um Respekt hatten sie sich keine Gedanken machen müssen. Exzentrisches Auftreten, Launen, Exzesse, alles hatte man ihnen verziehen, damals. Hier, im asphaltierten Beamtenviertel, konnte man den Müll nicht am falschen Tag vor die Tür stellen, ohne sich den Zorn der Nachbarn zuzuziehen.