Hedwig schob ihre Hochsteckfrisur vor dem Spiegel in der Diele zurecht und strich den braunen Wollrock glatt, der fast bis zu den Waden reichte. Sie blickte in den Spiegel und wartete. Sie warte solange, bis ihr faltiges, zusammengefallenes Gesicht auf einmal wieder die frischen Rundungen der Jugend annahm, bis ihre Wangen sich röteten, die hochgesteckten Haare sich im Fahrtwind lösten und zu einem kecken Bubikopf nicht weiter als bis zum Kinn fielen. Die enge Bluse mit dem runden Kragen war verschwunden und hatte einem luftigen, gerade geschnittenen Kleid Platz gemacht, das eine Handbreit über Hedwigs Knien endete. Ihre Beine waren lang und schlank. Hedwig lachte übermütig ihr Jüngeres Ich im Spiegel an, herausfordernd. Ihre weißen Zähne blitzten in ihrem glühenden Gesicht.
Natürlich war es auch damals unerhört gewesen, dass sie sich so gekleidet hatte, als Tochter eines westpreußischen Gutsbesitzers. Aber das war sie nun einmal gewesen, die ungestüme Hedwig. Schon als Kind war sie stundenlang mit den polnischen Jungs aus dem Dorf durch die Wälder gestromert, hatte die höchsten Bäume erklommen und war dann halsbrecherisch herunter gesprungen. Später hatte sie am liebsten die wildesten Hengste geritten, auf dem benachbarten Gestüt. Als sie sechzehn war, hatten ihre Eltern sie schließlich auf ein Mädchenpensionat im Brandenburgischen geschickt. Bei Klavier-, Französisch- und Tanzunterricht hatte man sie zähmen wollen, vorbereiten auf die Ehe. Doch niemand hatte bedacht, wie nah das Pensionat an Berlin war, niemand war auch nur auf die Idee gekommen, dass Hedwig nicht nur die Abenteuer lockten, die die heimische Natur bot. Nein, sie erlag allem, was ihr erlaubte aus vollen Zügen zu leben. Da waren die Verheißungen der Großstadt ebenso recht wie temperamentvolle Pferde. Es hatte eine direkte Zugverbindung nach Berlin gegeben und wenn Hedwig am Wochenende nicht gleich ganz ausgebüchst war, dann hatte Hilde, ihre Schulkameradin sie mit zu ihren Eltern nach Dahlem genommen.
Hildes Vater war zu beschäftigt gewesen mit seinen Geschäften und die Mutter mit ihren Gesellschaften, als dass sie darauf geachtet hätten, was Hilde Hedwig alles zeigte. Also hatte Hilde Hedwig alles gezeigt: die schönsten Badestellen am Wannsee und an der Krummen Lanke, die besten Theater, die interessantesten Ausstellungen, die verruchtesten Tanzlokale, auch solche, wo nur Frauen miteinander tanzten, und solche, wo Männer wie Frauen sich mit Morphium oder Kokain in Stimmung brachten. Und Hedwig hatte ihre Klavierausbildung dazu genutzt, um die neuesten Gassenhauer nachzuspielen für die Mädchen im Pensionat. Als die Offiziere alle an der Front waren, hatten die Schülerinnen eben untereinander getanzt.
Später bei Lüneburg, nach der Flucht, hatte sie ab und an für die Mägde und Knechte des nahe gelegenen Hofs gespielt. Diese Tanzabende waren das einzige gewesen, was die Alteingesessenen und die ungeliebten Flüchtlinge einander ein bisschen näher gebracht hatte.
Auch Hilde hatte gute Jahre erlebt zwischen den Kriegen. Mit Mieze Sternberg, einer Malerin, hatte sie einen Salon unterhalten und große Gesellschaften gegeben. Ab und an waren auch Hedwig und Fritz zu Gast gewesen, auch wenn der sich nie für Kultur hatte begeistern können. Doch der Alkohol und der Überschwang, das hatte ihm gefallen. „Wen kümmert' s, ob es natürlich ist, wenn es nur ordentlich kracht“, hatte er gedröhnt. Hedwig hatte es bis zuletzt versäumt, ihn zu fragen, ob es die Kunst war, die er für unnatürlich hielt, oder die Frauenliebe.
Ein gutes Ende hatte es nicht gegeben, für Hilde. Als die Nazis gekommen waren, um Mieze zu holen, hatten sie Hilde gleich mitgenommen. Judenliebchen und eine stadtbekannte Lesbierin noch dazu, mit Verbindungen zu untergetauchten Sozialdemokraten - die Nazis hatten weniger gebraucht, um einen Menschen zu vernichten.