Tränen der Wut und der Scham schossen Hedwig ins Gesicht, als sie im Spiegel wieder zu der Großmutter wurde, die sie war. Im Wollrock, mit Hochsteckfrisur und mit einem Apfelkuchen im Ofen. Heimatlose Großmutter. Freiheit und Frechheit hatte sie irgendwo auf der Flucht verloren, oder wer weiß, vielleicht schon lange vorher.
Sie ging in die Küche und sah im Ofen nach, wie weit der Apfelkuchen war.
Der Enkel würde gleich kommen mit einem Schulfreund, sie wollten einen Boxkampf sehen. Hedwig war die einzige in der Familie, die ein Fernsehgerät besaß. Als Fritz gestorben war, hatten Lenchen und ihr Mann beschlossen, dass sie Abwechslung bräuchte. Also ein Fernsehgerät. Als wenn Rate-Sendungen, Fußballspiele und Familienserien ihren Prachtkerl hätten ersetzen können. Offenbar war niemanden aufgefallen, dass sie ihn schon lange vor seinem Tod verloren hatte, auf der Flucht, als die Russen ihn geschnappt und grün und blau geschlagen hatten, als der Hunger von ihnen Besitz ergriffen hatte, und als das Verlangen nach dem alten Leben quälend zu stechen begann, die Sehnsucht nach dem Hof, nach der Weichsel, nach den Feldern und nach den preußischen Seen. Damals war nicht nur der ehemals so stattliche Körper in sich zusammengeschrumpft, der ganze Mann war dahingeschwunden.
Fritz und Hedwig hatten sich auf einer Hochzeit kennengelernt, gleich nach dem ersten Weltkrieg. Fritz war gerade zurückgekommen von der Ostfront. Wen wunderte es, dass er nach Leben hungerte? Wenn er dazu eine Frau brauchte, die Bubikopf trug und lackierte Fingernägel, die gerne amerikanische Gassenhauer spielte, wenn sie in die Klaviertastatur griff, die Motorrad fuhr und in Danzig den Charleston etablierte, dann verziehen sie ihm auch das. Was waren sie für ein Paar gewesen, Fritz und Hedwig. Besser als die Ehe mit einem lebenshungrigen Gutsbesitzer, der auf die anderen pfiff, hätte sie es nicht treffen können nach der Zeit im Pensionat.
Sogar dass es mit den Kindern nicht hatte klappen wollen, sogar darauf hatte er gepfiffen, scheinbar. Doch Hedwig war zwar leichtsinnig gewesen, aber nicht blind und taub. Sie hatte gewusst, dass sie wenigstens die Mindestanforderungen würde erfüllen müssen, die man an die Frau eines preußischen Gutsbesitzers stellte, damals. Den Bubikopf, den Charleston, das Motorrad, das hatten sie ihr alles noch verzeihen können. Aber keinen Erben für das Gut hervorzubringen... Schon nach zwei Jahren fruchtloser Ehe hatte man angefangen zu tuscheln im Dorf. Wenn es noch lange so weiter gegangen wäre, dann hätten sie bald nicht einmal mehr die Hand davor gehalten.
Also hatte sie Ärzte konsultiert, in Berlin. Das Urteil war einmütig gewesen. Alles in Ordnung mit Ihnen, gnädige Frau, Sie sollten Ihren Mann mitbringen, das nächste Mal. Natürlich war das ausgeschlossen gewesen. Ja, Fritz' Lebensdrang hatte ihr ein freies Leben verschafft, aber nun auch noch an seiner Manneskraft zu zweifeln, das ging entschieden zu weit.
Es war Hilde gewesen, die einen Ausweg fand. Eine Liebesnacht, diskret organisiert, am Rande einer Gesellschaft, als Fritz mit der Ernte beschäftigt war und nicht mit nach Berlin kommen konnte. Nur mal, um zu sehen, hatte Hilde gesagt. Und stell dich nicht an, es ist schließlich in seinem Sinne.
Und wie es in seinem Sinne gewesen war! Er war außer sich gewesen vor Freude, als Helene zur Welt gekommen war. Kein Wort darüber, dass es ein Mädchen geworden war. Er hatte sie abgöttisch geliebt, sein Lenchen. Und er hatte nie wieder nach einem weiteren Kind gefragt, auch nicht nach einem Erben für seinen Hof. Also hatte auch Hedwig diese Frage einfach hinter sich gelassen. Sie hatte Fritz zu sehr geliebt, um ihn auf diese Art zu seinem Glück zu zwingen, wenn es doch nicht notwendig schien. Erst als Lenchen im letzten Jahr vor der Flucht nach zwei Töchtern einen Jungen zur Welt brachte, Fritz das ganze Dorf drei Tage und drei Nächte zu einem Bankett einlud und am Ende mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, erst da hatte Hedwig begriffen, wie töricht sie gewesen war, sich all die Jahre vorzugaukeln, dass Fritz den Erben einfach vergessen hatte. Er war ein Kind der preußischen Seen und Felder gewesen, verwurzelt mit seinen Traditionen. Natürlich hatte er einen Erben haben wollen.
Überhaupt, das Pfeifen auf andere war ganz allgemein töricht gewesen, nicht nur im Hinblick auf den fehlenden Erben. Hilde hatte es Hedwig immer gesagt: „Du kannst der Politik nicht entkommen.“ Am Ende hatte sie sie beide geholt, die Politik. Auch sie, Hedwig, war nicht ungeschoren davon gekommen.